Ich kann jeder sagen by Menasse Robert

Ich kann jeder sagen by Menasse Robert

Autor:Menasse, Robert [Robert, Menasse]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp
veröffentlicht: 2009-10-17T00:00:00+00:00


Die amerikanische Brille

Ich war glücklich, als John F. Kennedy erschossen wurde.

Deborah war entsetzt. »Wie kannst du so etwas sagen?«

Sie hatte eben erst ein Kind verloren (es widerstrebt mir, zu sagen, dass »wir« es verloren haben), hatte drei Tage kaum ein Wort von sich gegeben und redete jetzt über – Kennedy. Wie sind wir darauf gekommen? Kind, Kindheitserinnerungen, Erinnerungen an dramatische Ereignisse, Schock im weltgeschichtlichen Maßstab. Ich weiß es nicht mehr. Ich hörte ihr zu – und doch nicht. Ich war erleichtert und konzentrierte mich darauf, meine Erleichterung nicht zu zeigen. Ich hatte dieses Kind nicht gewollt. Durch Deborahs Schwangerschaft war mir vollends klar geworden, dass ich mit ihr nicht mehr zusammenbleiben wollte. Ein Kind hätte die unausweichliche Trennung nur hinausgezögert, unser Leid vergrößert und es am Ende einem Dritten aufgebürdet.

Debbie aber redete von ihrem Unglück, schritt ihr ganzes Leben ab wie ein Stationendrama voller Schicksalsschläge, und ich dachte, dass ich noch einmal Glück gehabt hatte.

Am Nebentisch lümmelte ein junger Mann, der von Zeit zu Zeit Sätze in sein Handy brüllte, die wie Peitschenhiebe in unser Gespräch knallten.

»Du musst das Hirn ausschalten! Verstehst du?«

Wir saßen im Gasthaus »Zur Eisernen Zeit«, um die Ecke von unserer Wohnung. Meiner Wohnung. Wir hatten, von der Nachuntersuchung bei Debbies Frauenarzt kommend, unmittelbar vor dem Gasthaus einen Parkplatz gefunden und sind, ohne dass wir es vorgehabt hatten, hineingegangen und haben Gulasch und Bier bestellt. Ich war beim dritten Bier, Debbie trank nun Wein, zum ersten Mal seit fast einem halben Jahr. Ihr Gulasch war kalt geworden. Die Wohnung war kalt geworden, wir hatten beide nicht den geringsten Antrieb, nach Hause zu gehen.

»Ich sage es dir noch einmal: Hirn ausschalten! Bitte!«, rief der junge Mann am Nebentisch ins Telefon. Und Debbie: »Wie kannst du so etwas sagen? Wie kannst du damals glücklich gewesen sein?«

Weil es wahr ist, sagte ich. Ich war, als Kennedy erschossen wurde, ein Kind, sechs Jahre alt, und ich war glücklich. Meine Eltern sollten sich erst ein Jahr später trennen.

»Oh mein God! Dann hast du ja gar nichts mitbekommen«, sagte sie, »aber bei uns zu Hause –«

Wie mir ihr »Oh mein God!«-Getue auf die Nerven ging! Debbie war Amerikanerin, das heißt, sie besaß neben ihrem österreichischen auch einen amerikanischen Pass, weil sie in New York zur Welt gekommen war. Ihr Vater hatte dort als junger Diplomat im österreichischen Konsulat gearbeitet. Sie hatte nur ihre ersten vier Jahre in den USA verbracht, später noch vier Jahre in Helsinki, als ihr Vater dorthin versetzt wurde, aber das hatte offensichtlich keine Spuren hinterlassen. Und die acht Jahre in einem Schweizer Internat hatten auch keinen Niederschlag auf ihr Selbstverständnis und ihre Sprache gehabt. Nach ihrem Studium in Wien hatte sie sofort eine Anstellung gefunden – bei der österreichischen Niederlassung einer großen amerikanischen Werbeagentur. Da war sie wieder »zu Hause« angekommen, und ihr leichter amerikanischer Akzent, der zunächst so charmant wirkte, aber völlig unglaubwürdig war, wenn man ihre Biographie kannte, wurde endgültig zur selbstverliebt gepflegten Marotte.

Das stimmt nicht, sagte ich. Ich habe es sehr wohl mitbekommen. Ich weiß zwar



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